N. Berg (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit

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Titel
Der Berliner Antisemitismusstreit. Eine Textsammlung von Walter Boehlich


Herausgeber
Berg, Nicolas
Erschienen
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arno Herzig, Frühe Neuzeit, Universität Hamburg

Im Jahr 1965 publizierte im Insel Verlag, der im selben Jahr vom Suhrkamp Verlag übernommen wurde, der Lektor Walter Boehlich in der von ihm herausgegebenen „Sammlung Insel“ den Band 6 mit dem Titel „Der Berliner Antisemitismusstreit“. Das Bändchen im Oktavformat umfasst mit dem Quellenkorpus und einem Nachwort circa 270 Seiten. Es wurde zu einem Standardwerk in der langsam in Gang kommenden Antisemitismusdiskussion der 1960er-Jahre und war bald vergriffen.

Nun hat Nicolas Berg im Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag die Dokumentation erneut herausgegeben und mit ausführlichen Kommentaren versehen. Seit Boehlich hat sich die Diskussion um den Berliner Antisemitismusstreit weiterentwickelt und hierbei vor allem Theodor Mommsens Bedeutung in dieser Auseinandersetzung relativiert. Es ist deshalb zu begrüßen, dass Berg das Werk neu herausgebracht hat und mit seinen Kommentaren die heutige Einschätzung verdeutlicht. Darüber hinaus hat er die Textausgabe durch neue Quellen ergänzt, so durch einen Vortrag von dem jüdischen Völkerpsychologen Moritz Lazarus „Was heißt national?“. Hinzugefügt hat Berg ferner in Auszügen Briefe Berthold Auerbachs an seinen Freund Jakob Auerbach sowie Levin Goldschmidts Brief an Heinrich von Treitschke. Die von Berg ergänzten Texte aus den 1870er-/80er-Jahren zeigen auf, wie sensibel die jüdischen Zeitgenossen die Angriffe Treitschkes bewerteten und dessen Argumente zurückwiesen. Die ergänzten Texte plante schon Boehlich in das Textkorpus aufzunehmen, denn Auerbach zeigte sich hierin entsetzt darüber, dass der Antisemitismus im Bildungsbürgertum und der Kultur einen zentralen Platz gefunden hatte. Für Goldschmidt bedeutete sein Brief an Treitschke die Aufkündigung seiner Freundschaft mit ihm. Er lehnte dessen These ab, dass der Staat durch christlich-germanische Wurzeln fundiert sei. Das Christentum könne deshalb nicht Staatsreligion sein. Lazarus wiederum wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die Juden nicht durch Wohlverhalten die Zugehörigkeit zur Heimat beweisen müssten.

Auch wenn die neue Ausgabe statt des alten Umfangs nun 542 Seiten umfasst, so sind Bergs Kommentare eine wichtige und aufschlussreiche Ergänzung. Boehlich wollte mit der Dokumentation von Quellen des 19. Jahrhunderts den zeitgenössischen politischen und wissenschaftlichen Widerstand gegen den Antisemitismus Treitschkes aufzeigen. Der Bruch in der Historiographie, den Treitschke herbeigeführt hat, fand eine Kontinuität bis in die Zeit Boehlichs. Berg sieht auch aus heutiger Sicht die Bedeutung Boehlichs und seiner Publikation darin, der zeitgenössischen Historiographie Material an die Hand zu geben, gegen diese Kontinuität vorzugehen.

Mit dem Aufzeigen der „Leerstelle im kollektiven Bewusstsein der Deutschen“ übte Boehlich auch Kritik an der gesellschaftlichen und politischen Weigerung, die Folgen dieses Antisemitismus wahrzunehmen, und forderte die deutsche Öffentlichkeit damit auf, Verantwortung für die Folgen zu übernehmen. Berg beabsichtigt, Boehlichs Text auch für die gegenwärtige Diskussion um den Antisemitismus fruchtbar zu machen. Auf eine umfangreiche Ergänzung der Texte verzichtet er angesichts der zahlreichen Texte, die zu diesem Thema inzwischen publiziert worden sind. Kritik an Treitschke kam um 1880 weitgehend von jüdischer Seite. Mit dem ersten Beitrag, nämlich dem des Breslauer Rabbiners Manuel Joel, wählt Boehlich einen Vertreter der sechs Rabbiner, die gegen Treitschke das Wort ergriffen. Die Argumente dieser jüdischen Antipoden erweisen sich im Nachhinein als weitschauende Prognosen. Für die nicht-jüdischen Verteidiger des liberalen Deutschlands steht hier Theodor Mommsen. Er vertritt die Gruppe der Liberalen, die auch nach 1870/71 nicht nationalistisch dachten; denn, wie Berg hervorhebt, nur drei Kollegen vertraten Treitschkes Standpunkt.

Boehlich stand als Lektor und Kritiker mit diesem Akt historischer Aufarbeitung 1965 außerhalb der Historikerzunft. Berg geht in seiner Einleitung daher auch auf Boehlichs Familiengeschichte ein, weil dadurch deutlich wird, dass auch Boehlich letztlich ein Opfer dieses von Treitschke begründeten bürgerlichen Antisemitismus ist. Boehlichs Mutter war jüdischer Herkunft und wurde von den Nationalsozialisten in das KZ Theresienstadt deportiert, erlebte jedoch die Befreiung. Durch seine Familiengeschichte lag ihm, dem 1921 in einer bürgerlichen Familie in Breslau Geborenen, das Thema nahe. Nach der Terminologie der nationalsozialistischen Nürnberger Gesetze war er „Halbjude“ und wurde deshalb 1940 aus der Wehrmacht entlassen. Dies verschaffte ihm die Möglichkeit, trotz fehlender Studienerlaubnis zunächst an der Universität Breslau und ab 1945 in Hamburg Kunstgeschichte zu studieren. Seine Dokumentation sollte zeigen, „was vergessen, verdrängt oder unbekannt ist“ und „ein kritisches Licht auf die deutsche Geschichte, vor allem im 19. Jahrhundert werfen“. Mit der Dokumentation übte er Kritik an der Haltung der Historiker der 1950er-Jahre, wie zum Beispiel von Walter Bußmann und Martin Broszat, die Treitschkes Antisemitismus verharmlosten. Boehlich warf der Historikerzunft „Scheu vor Ideologiekritik“ vor. In ihrer Mehrheit seien sie „groß im Verdrängen“ und „groß im Verschweigen“. Mit seiner Dokumentation wies er auf die lange Vorgeschichte des akademischen Antisemitismus hin, der 1933 offen zum Ausbruch kam. Im 19. Jahrhundert allerdings existierte noch eine liberale Gruppe, die sich ihm widersetzte. Dennoch wurde durch Treitschke der Antisemitismus im Bürgertum und in der Universität gesellschaftsfähig. Treitschkes Antipode in der Fakultät war Mommsen. Ausdrücklich betonte dieser, dass die Juden Deutsche seien, doch ging es Mommsen nicht primär um die Sorgen und Nöte der Juden, sondern um den „nationalen Frieden“. Besonders neuere Historiker kritisieren diese Haltung. Mommsens Text sei „kein Manifest für die Akzeptanz der jüdischen Bürger“ (Stefan Rebenich). Boehlich sah das anders und interpretierte Mommsen als eine „Instanz der Überparteilichkeit“. Berg beurteilt diese Einschätzung Mommsens durch Boehlich als nicht völlig falsch, aber sie sei als idealtypische Antinomie überspitzt. Mommsen, obgleich Agnostiker, setzte das Christentum mit der internationalen Zivilisation gleich. Die Juden sollten deshalb ihre „Sonderart“ von sich tun. Zurecht kritisierte damals Ludwig Philippson, der Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, diese „sonderbarste Idee“, denn sie verlange von den Juden, ihr Judesein aufzugeben.

Diese zeitgenössischen Einwände ließ Boehlich außer Acht. Trotz dieser Einschränkung, die die Position Mommsens heute erfährt, bleibt dessen Rolle in der Auseinandersetzung mit Treitschke ein bedeutendes Ereignis der deutschen Historiographie. Ihre Vertreter in der Folgezeit verloren diesen Mut und vertraten in ihrer Mehrheit den von den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts kritisierten „Antisemitismus der Talare“. Dass Berg über Boehlich hinausgehend Mommsens Bedeutung relativiert, ist wichtig und verschafft der erweiterten Neuauflage von Boehlichs Standardwerk einen besonderen Wert.

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